Neue Pflichten

Aktuelle Herausforderungen für Freimaurer

Seit dem Jahre 1717 hat sich die Freimaurerei vielfältig entwickelt; welche Richtung aber freimaurerisches Bemühen auch immer einschlug, es blieb stets den Alten Pflichten der Anderson’schen Konstitution unterworfen. Die Alten Pflichten sind nicht nur ein ehrwürdiges Dokument der Humanität, auf ihnen beruht auch alle freimaurerische Arbeit, die auf selbstständiges Denken und verantwortliches Handeln des Menschen zielt. So stellen die Alten Pflichten heute das Bindeglied zwischen den verschiedenen Gruppen der Freimaurerei dar. Ihre Befolgung soll auch weiterhin verbindlich bleiben. 1974 wurden vom Großorient von Österreich zusätzlich „Die neuen Pflichten“ aus vielen Gründen der Aktualität erarbeitet, die wir unseren Brüdern und Schwestern empfehlen anzunehmen:

So sind uns unter anderem die folgenden Bedrohungen erwachsen:

  •  Die Verschmutzung und Zerstörung unserer Umwelt.
  • Die Nahrungs- und Rohstoffknappheit, sowie der Energiemangel.
  • Die zurzeit noch nicht beherrschbare Bevölkerungsexplosion.
  • Die zyklischen, nur teilweise regulierbaren Abläufe der ökonomischen, sozialen    und psychischen Entwicklung.
  • Krasse Unterschiede im Niveau der ökonomischen Entwicklung und der technologischen Fähigkeiten, sowie der allgemeinen Bildung verschiedener Nationen.
  • Individual- und Gruppenegoismus.
  • Zunehmende Möglichkeiten zur Beeinflussung von Massen durch psychologische    Werbemethoden und einseitige Information.
  • Zunehmende Schwierigkeiten der Kommunikation zwischen ideologisch fixierten    und wissenschaftlich spezialisierten Menschen.
  • Das Fehlen verbindlicher Regeln für das Zusammenleben der Nationen.
  • Das Zurückbleiben der geistigen Entwicklung hinter der technischen.
  • Der Rüstungswettlauf zwischen Machtblöcken und die Gefahr der Anwendung von    Massenvernichtungsmitteln.
  •  Die zunehmende Resignation vieler Menschen, die fähig wären, positive Beiträge zu leisten.

 

Die neuen Pflichten

1.Zur Zeit Andersons standen die Menschen unter so einem starken Zwang staatlicher und kirchlicher Mächte, dass die Äußerung freiheitlicher Gedanken gefährlich war. In den Alten Pflichten sind daher viele solcher Gedanken nur in versteckter Form enthalten. Wo heute die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung besteht, erscheint es geboten, den Sinn der Alten Pflichten deutlich auszusprechen.

2.Durch die inzwischen eingetretene gesellschaftliche Entwicklung haben viele Menschen neue Rechte erworben. Neuen Rechten müssen aber auch neue Pflichten gegenüberstehen, sofern eine menschenwürdige Ordnung gesichert sein soll.

3.Bisher war der Mensch vorwiegend durch die ihn umgebende Natur bedroht. In dem Maße, in dem der Mensch lernte, die ihm fremde Natur zu beherrschen, wurde seine eigene Natur zur größten Gefahr für das Überleben der Menschheit.

Um diese und andere Gefahren, die jede für sich alleine schon unser Überleben bedroht, zu bannen, bedarf es einer baldigen, durchgreifenden Änderung in der Mentalität der Menschen unserer Zeit. Die Freimaurerei ist aufgerufen, hier ihren Beitrag zu leisten, ähnlich wie sie es im 18. Jahrhundert getan hat. Nur wenn die Freimaurerei sich zu diesen Aufgaben bekennt, wird sie wieder wie damals die führende Rolle in der geistigen Entwicklung spielen können. Die ”Neuen Pflichten” wurden aufgestellt, um die Bruderschaft auf diese neuen Aufgaben vorzubereiten.

 

I. HAUPTSTÜCK Von Gott und der Religion

Die Freimaurerei ist keine Religionsgemeinschaft, vielmehr verfolgt die Freimaurerei ausschließlich weltliche Ziele. Religiöser Glaube soll daher Privatsache aller Brüder bleiben. Ihr sollt daher eure neuen Brüder ohne Rücksicht darauf, ob sie sich zu einem persönlichen Gott bekennen oder nicht, in Eure Logen aufnehmen. Auch sollt Ihr mit anderen Logen als Bruderlogen zusammenarbeiten, gleichgültig, ob diese im Namen des ABaW arbeiten oder nicht. Vielfach ist heute an Stelle der religiösen Orthodoxie eine ideologische Unduldsamkeit getreten. Da verschiedene ideologische Ansichten die Menschheit entzweien können, ist es Aufgabe der Logen eine Verständigung zwischen Anhänger verschiedener Weltanschauungen möglich zu machen. Seit jeher hat die Loge diese Aufgabe als Gesprächsgemeinschaft erfüllt. Jeder Bruder hat das Recht, sich religiös oder politisch zu engagieren, in der Loge hat er aber die Pflicht, die ehrliche Meinung seines Mitbruders zu respektieren, er soll sogar bei jeder Gelegenheit diese Meinung anhören und daran seine eigenen Ansichten prüfen. So sehr nun Religion und Weltanschauung Privatsache der Brüder sind, soll es Euch doch nicht gleichgültig sein, welche Folgerung ein Mensch aus seiner Religion oder aus seiner Ideologie zieht, vielmehr sollt Ihr darauf achten, ob diese Forderungen im Einklang mit dem Sittengesetz stehen, auch sollt Ihr Eure Toleranz nur solchen Menschen entgegenbringen, die selbst bereit sind, Toleranz zu üben. Jeder Freimaurer soll sich aber zu der Religion bekennen, in der alle Menschen übereinstimmen können, nämlich zur Bewunderung der Schöpfung, zur Ehrfurcht vor dem Leben und zur Achtung der freien Individualität des Menschen. Hieraus ergibt sich, dass Ihr als Freimaurer der Frage nachgehen sollt, wie die Zerstörung der Natur durch den Menschen hintangehalten werden kann und wie die physische und geistige Wohlfahrt des Menschen am besten zu fördern ist.  Bei der immer schneller ablaufenden gesellschaftlichen und technischen Entwicklung unterliegt das Menschenbild einem ständigen Wandel. Es soll daher in der Loge Eure vornehmste Aufgabe bleiben, nach einer Antwort auf die Frage zu suchen: ”Was muss man sein, um ein Mensch zu sein?”

II. HAUPTSTÜCK Von der bürgerlichen Obrigkeit, der höchsten und der untergeordneten (über den Staat)

Im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderten ist das Gedankengut der Freimaurerei in die Verfassungen zahlreicher Staaten eingegangen. Daraus ist zu ersehen, dass Freimaurer bewusste Staatsbürger sind, die sich für das Wohl der Mitbürger einsetzen und sich für alle Handlungen des Staates mitverantwortlich fühlen. Der Freimaurer steht seinem Staat loyal gegenüber, solange dieser die Würde des Menschen und seine Rechte respektiert. Er lehnt jedoch jede Beschränkung ab, die eine Verständigung der Menschen untereinander behindert. Von den Gefahren, die heute der Menschheit drohen, können viele nur durch weltweite Maßnahmen gebannt werden. Der Freimaurer wird sich daher dafür einsetzen, daß der Einzelstaat dort, wo es zum Besten der Menschheit notwendig wird, nicht unbedingt auf seiner unbeschränkten Souveränität beharrt, sondern Kompetenzen an höhere, übernationale Organisationen abgibt. Wo ein Staat von der Achtung der Menschenrechte abweicht, und freie Meinungsäußerung unterdrückt, werden meist auch die Arbeiten der Logen verboten und die Brüder verfolgt.

Die Arbeit der Freimaurer soll daher auf die Anerkennung der Menschenrechte in jeder Gemeinschaft zielen. Diese bedürfen in jedem Zeitalter einer eigenen Formulierung. Daher sollt Ihr bemüht sein, sie immer wieder neu zu fassen und durchzusetzen. Alle Freimaurer sind verpflichtet, Menschen, die für die Menschenrechte eintreten, zu unterstützen und die Leiden der Verfolgten zu lindern. Viele Staaten kennen keine Obrigkeit mehr, sondern nur noch die von freien Bürgern in die gesetzgebenden Versammlungen entsandten Vertreter. Diese und die Behörden dienen dem Staat und seinen Bürgern. Aufgabe der Freimaurer ist es, allen Staatsbürgern ihre Fähigkeit zur Mündigkeit bewusst zu machen und ihre Verwirklichung zu fördern, damit sie von ihren Rechten weisen Gebrauch machen und ihre Pflichten erfüllen. Zu diesen Pflichten gehört insbesondere die ständige kritische Auseinandersetzung mit allen Institutionen des Staates, um deren Missbrauch zu verhindern.

III. HAUPTSTÜCK Von den Logen

Die Loge ist eine Gesprächsgemeinschaft, die sich mit den Problemen ihrer Zeit auseinandersetzt. Es ist nicht Zweck dieser Auseinandersetzung, absolute Lösungen zu finden, sondern die vielfachen Wurzeln der Probleme freizulegen, so dass jeder in seinem Lebensbereich diesen Problemen mit selbstständigem Denken und verantwortlichen Entscheidungen begegnen kann. Hierdurch sollen Freiheitsräume in der immer komplexer werdenden menschlichen Gesellschaft geschaffen werden. Hierbei ist die Loge ein Modell der menschlichen Gesellschaft, in dem der Einzelne lernt, in der Gruppe zu arbeiten. Die Gruppen aber lernen, wie sie im Rahmen eines übergeordneten Verbandes miteinander arbeiten können, ohne daß die Rechte einzelner Gruppen mehr als unbedingt notwendig eingeengt werden. Wenn die Loge ihre Aufgabe erfüllt, dann wird der Einzelne gern Disziplin bewahren, um die Aufgaben der Gesamtheit zu fördern. Erfüllt die Großloge ihre Aufgaben, dann werden die einzelnen Logen bereit sein, Kompetenzen an die Großloge abzutreten, um die Durchführung größerer Aufgaben zu ermöglichen. Da die Loge eine Gesprächsgemeinschaft ist, sollen nur Brüder aufgenommen werden, die fähig und bereit sind, am Dialog teilzunehmen. Dieser verlangt von den Teilnehmern den guten Willen, eigenes Denken in Frage stellen und Vorurteile zu überwinden. So hilft die Loge dem Menschen, zu sich selbst zu finden und die Arbeit in der Loge führt die Brüder trotz der geforderten Disziplin zu einer wahren geistigen Freiheit, die der Einzelne allein nur schwer erringen kann. Mit dieser geistigen Freiheit sind die jeweils wechselnden und historisch bedingten Anerkennungsverhältnisse, die die Freimaurerei in den letzten zwei Jahrhunderten gespalten haben, unvereinbar. Ihr sollt daher jeden als Bruder ansehen, der sich zu den Alten Pflichten der Anderson’schen Konstitution bekennt. Ebenso sollt Ihr die Zusammenarbeit mit keiner Loge verweigern, die von 7 Brüdern, darunter 4 Meister gegründet wurde und die im Sinne der Alten Pflichten arbeitet. Da in unserer Zeit die Frauen immer mehr gesellschaftliche Verantwortung tragen und auch hinsichtlich ihrer Bildung den Männern nicht mehr nachstehen, haben sich einige Logen entschlossen, auch Frauen aufzunehmen. Dies steht im Gegensatz zum Wortlaut der Anderson’schen Konstitution: Es kann heute schwer entschieden werden, wie weit es durch den Wandel der gesellschaftlichen Struktur gerechtfertigt ist, von dem Grundsatz, wonach die Freimaurerei ein Männerbund ist, abzugehen. Daher sollt Ihr die Erfahrungen der gemischten Logen sorgfältig prüfen und euch nicht weigern, mit gemischten Logen zusammenzuarbeiten. Keinesfalls darf die Frage der Aufnahme von Frauen Ursache einer weiteren Spaltung des Bundes werden.

IV. HAUPTSTÜCK Von den Meistern, Aufsehern, Gesellen und Lehrlingen

Alle Macht in der Loge geht von den Brüdern aus.

Der Stuhlmeister ist der Repräsentant der Loge, er hat die Aufgabe, den Willen der Loge durchzusetzen und die Ausführung der Logenbeschlüsse zu überwachen. Er verteilt die Arbeit in der Loge an die Brüder gemäß ihrer Fähigkeiten. Er sorgt für die Disziplin in der Loge, die zum Gelingen der Arbeit der Freimaurer erforderlich ist. Alle Macht in der Großloge geht von den Logen aus. Der Großmeister ist der Repräsentant der Großloge, er hat die Aufgabe, den Willen der Großloge durchzusetzen und die Ausführung der Beschlüsse der Großloge zu überwachen. Er hat dafür zu sorgen, dass die Arbeiten in den einzelnen Logen sinnvoll das gemeinsame Bauwerk der Freimaurer fördern. Er teilt den Logen die Arbeit zu, doch nur in dem Ausmaße, dass hierdurch die selbst gewählten Arbeitsvorhaben der Loge nicht behindert werden. Wer ist der Bauherr der Freimaurer? Es ist die menschliche Gesellschaft, der sich alle Freimaurer verpflichtet fühlen. Wer ist Lehrling? Der sich selbst, seine eigenen Fähigkeiten und Grenzen erkennen lernt, um reif zu werden, als Geselle in der Gruppe zu arbeiten. Wer ist Geselle? Der lernt, in der Gruppe zu arbeiten, um fähig zu werden, als Meister einmal die Arbeit einer Gruppe zu leiten. Wer ist Meister? Der schöpferisch an der Arbeit der Loge mitwirkt. So bleibt Ihr auch als Meister Euer ganzes Leben lang Lehrlinge und Gesellen und die 3 Grade der Freimaurerei unterscheiden sich nicht durch höhere Rechte, sondern nur durch höhere Pflichten.

 

V. HAUPTSTÜCK Von dem Verhalten der Zunft bei der Arbeit

In der Loge sollt Ihr frei von den Bedrängnissen des Alltags die Sammlung finden, um unvoreingenommen und gemeinsam mit Euren Brüdern die wichtigen Fragen Eurer Gegenwart und Eurer Gesellschaft zu behandeln. - Die Deckung der Loge erlaubt Euch, Eure Ansichten ohne Rücksicht auf profane Bindungen zu äußern, die Bruderschaft wird immer bereit sein, sich mit Euren Meinungen zu befassen. Die von Euch geforderte Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung soll Euch in die Lage setzen, diszipliniert an der Logenarbeit teilzunehmen, denn nur wenn die behauenen Steine gut aneinander passen, kann ein vollkommenes Bauwerk gelingen. Woran arbeiten die Freimaurer? Sie wollen ein Gebäude der Menschlichkeit errichten. Sie wollen erkennen, was ihre Zeit von ihnen verlangt, um dann im profanen Leben als geistig freie Menschen wirken zu können. Euer Verhalten in der Loge soll vom Ernst dieser Aufgabe bestimmt sein. Die ehrwürdigen Traditionen der Freimaurerei sollen Euch Ansporn und Verpflichtung sein. So sollt Ihr die Tradition pflegen, Bewährtes beibehalten, aber Euch nicht hemmen lassen, an der weiteren Entwicklung der Freimaurerei zu arbeiten. Ihr sollt das Ritual der Freimaurer vor Profanierung schützen, es aber ständig auf Sinngehalt und Aussagekraft überprüfen und den Anforderungen Eurer Zeit anpassen. Doch soll dadurch nie die Kette mit Brüdern, die mit Euch leben und die vor Euch gelebt haben, zerrissen werden. Niemand ist berechtigt, im Namen der ganzen Freimaurerei an die Öffentlichkeit zu treten. Im Namen einzelner Logen oder Großlogen dürft Ihr nur an die Öffentlichkeit treten, wenn Euch die Loge oder Großloge ausdrücklich hierzu ermächtigt hat. In der Regel werden die Freimaurer nicht als Loge und Großloge, sondern durch das Verhalten der einzelnen Brüder auf die Öffentlichkeit einwirken.

VI. HAUPTSTÜCK Von dem Betragen

Das VI. Hauptstück und der Schluss der Alten Pflichten behandeln Euer Verhalten innerhalb und außerhalb der Loge hinlänglich. Wir wollen hier nur hinzufügen, dass Euer ganzes Leben hindurch Euer Tun und Lassen von der Arbeit in der Loge bestimmt sein soll, um allen Brüdern brüderlich und allen Menschen menschlich zu begegnen.