Pluralität

Pluralität als freimaurerische Identität

Wenn wir Humanismus und Philosophie haben, Kunst und Wissenschaft, haben wir dann auch die Kompetenz, innerhalb der eigenen Tradition das widerstrebende Fremde zuzulassen und auszuhalten?

 

Kann Pluralismuskompetenz erworben werden? Und wenn ja, wie? Können Wissenschaft, Philosophie und Kunst – die Stützpfeiler des Humanismus – dazu beitragen? Die eine Disziplin kann ohne die andere nicht sein, die gegenseitige Befruchtung und Bereicherung machen das Leben aus. Dieser naturgegebene Pluralismus, diese Grundstruktur des menschlichen Zusammenlebens, symbolisiert die Bedeutung von Pluralismus, wie wir sie auf allen Ebenen unseres Lebens wiederfinden. Für unsere persönlichen Lebenslagen beschreibt Pluralität die Idee des friedlichen, gleichzeitigen Vorhandenseins verschiedener Systeme, Interessen, Ansichten und Lebensstile.

Fügen wir hier die für unsere Entwicklung hilfreichen „sieben freien Künste“ hinzu:

Die drei sprachlich und logisch argumentativ ausgerichteten Fächer: • Grammatik (Sprachlehre), • Rhetorik (Rede- und Stillehre), • Dialektik bzw. Logik (Schlüsse und Beweise)

und die mathematischen Fächer:

  • Arithmetik (Zahlentheorie),
  • Geometrie (Geometrie und Geographie), 
  • Musik (Musiktheorie und Tonarten),
  • Astronomie (Sphären, Himmelskörper, Astrologie).

In der Antike bestand der Wissenserwerb in diesen sieben Fächern nicht in schulischer Allgemeinbildung, vielmehr war die Zielrichtung eine philosophische. Die mathematischen Fächer hat bereits Platon in seiner POLITEIA im Zusammenhang mit der Ausbildung des idealen Staatsmannes neben der Philosophie angeführt.

Es erscheint wichtig, zusätzlich zu den drei Stützpfeilern des Humanismus auch die sieben freien Künste auf dem Weg zur Philosophie anzuführen: Nach Platon ist die Begriffsbildung der Philosophie die Liebe zur und das Streben nach Weisheit. Und Weisheit meint auch die Fähigkeit, in Anbetracht der vielen Einzelentscheidungen des Alltags, das Ganze im Blick zu behalten.

Und gerade in der Verschiedenheit der Menschen, in der Verschiedenheit ihrer Eigenschaften und ihrer Meinungen, liegt die große Chance des Menschengeschlechts.

Haben wir in unserer vermeintlich weit entwickelten Kultur genug „Weisheit”, also die Fähigkeit, entscheidende Zusammenhänge zu erkennen und aus diesen Erkenntnissen heraus auch den Mut, die ethisch sinnvollsten Entscheidungen zu treffen? Verlieren wir uns in der Vielfalt all dieser Ansätze – oder sind wir in der Lage, trotz oder dank dieser Vielfalt den Blick auf das Ganze zu richten?

Wenn wir nun Humanismus und Philosophie haben, Kunst und Wissenschaft, haben wir dann auch Pluralismuskompetenz? Kompetenz, innerhalb der eigenen Tradition auch das widerstrebende Fremde zuzulassen und auszuhalten?

Gotthold Ephraim Lessing hat in seinen aufklärerischen – utopischen – Gedanken zur Toleranz in Form des dramatischen Gedichts NATHAN DER WEISE an diese Dimension erinnert: Das Ideal des Zusammenlebens durch Toleranz, Vernunft, und Menschlichkeit. Die Stichworte, die Lessing zum Kern seines Humanitätsgedankens macht, sind Menschenliebe, Hilfsbereitschaft, Toleranz, Mildtätigkeit und Erziehung.

Ein Blick auf die Gegenwart zeigt, dass die Verschiedenheit der Menschen in unserer Gesellschaft in Bezug auf Herkunft, Religionszugehörigkeit und kulturellem Hintergrund nicht mehr auffällig, sondern Alltag ist. Die Grundgedanken unserer Verfassung – Menschenwürde, Gleichberechtigung und Toleranz – werden nicht abstrakt beschworen, sondern sind Fundament unseres Zusammenlebens.

In ihrer gegenwärtigen Form datiert die Freimaurerei aus dem 18. Jahrhundert. Wenn ihre Entstehungsgeschichte auch auf unterschiedliche Weise wiedergegeben wird, so ist sie letztlich doch eine Synthese aus den vielfältigen Ideen und Erkenntnissen, die durch die Erschütterung in Religion, Philosophie, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik hervorgebracht wurde. Die Freimaurerei diente als Bindemittel, das die unterschiedlichen Elemente und Bestandteile einer zerrissenen Welt, einer zersplitternden Weltanschauung, zusammenhielt.

Und heute? Ist die Welt heute weniger „zerrissen”? Wie zerrissen sie damals war, wissen wir nicht oder können es nur erahnen. Die Welt ist durch Infrastruktur, Verkehrsmittel und Kommunikationstechnik „kleiner” geworden. Wir sind in Sekunden über Vorfälle auf der anderen Seite des Globus informiert – und da erst erkennen wir, wie zerrissen die Welt von heute ist und welche Bedeutung die Freimaurerei als Bindemittel hat, das die unterschiedlichen Elemente und Bestandteile dieser heutigen zerrissenen Welt und zersplitterten Weltanschauungen zusammenhält.

Aber wir erkennen auch die Schönheit, die Vielfalt, das Gute und Wertvolle auf dieser Welt. Und wir müssen das erkennen – woher sollen wir sonst wissen, was unsere Anliegen, unsere Ziele sind? Wir müssen wissen, dass es das Licht gibt, wenn wir im Dunkeln stehen und es suchen und finden wollen.

Also liegt es an uns, an den Menschen, an jedem Einzelnen, eine friedliche, menschliche Welt zu konstruieren. Die Welt und die Zukunft in ihr kann gestaltet werden. 

Die Anthropologie sagt uns, dass der Mensch ein zeitloses Erfahrungswissen aus seiner Erlebnisfähigkeit und Erinnerungsvermögen hat, allerdings ein beschränktes Erkenntniswissen von seinem Denkvermögen her. Er hätte aber die Möglichkeit, durch die ihm gegebene Vernunft zu Einsichten zu gelangen.

Es heißt, wir seien unvollständig geboren, unvollständig in Geist und Wesen, und bewusst und unbewusst kämpfen wir ständig nach Vervollkommnung. Bei jedem Schritt erkennen wir dann, wie weit wir noch entfernt sind. Ist es dieser Kampf, der in jedem Menschen seine speziellen Eigenschaften entstehen lässt, seinen Charakter, weil jeder Mensch eine andere Vorstellung von Vollkommenheit hat, und jeder Mensch seinen eigenen Weg dorthin sucht?

Und woran arbeiten wir? Einer der freimaurerischen Grundsätze ist die Arbeit an sich selbst, also in der Selbsterkenntnis, Selbstbeherrschung und Selbstveredelung. Diese Arbeit an sich selbst setzt aber auch Sozialisierung voraus. Wie soll ich mich selbst erkennen, wenn ich alleine bin, wie kann ich Selbstbeherrschung üben und Selbstveredelung erreichen? Der Mensch entwickelt sich am besten in der Gemeinschaft.

Und in dieser Gemeinschaft müssen wir unsere Identität definieren. Dabei erkennen wir, dass diese Identität auf einer Pluralität von Begründungen und Argumenten basiert. Aus dieser Identität entsteht die Solidarität, die von elementarer Bedeutung ist.

Es gibt sicher mehrere Wege zu Identitäten, aber ich möchte mich hier auf zwei beschränken: die konstruierte Identität, also eine definierte Wunschidentität, die man dann zu leben versucht. Das kann funktionieren, wenn diese Wunschidentität mit der Authentizität der Mitglieder übereinstimmt. Oder eine Identität entsteht aus Chaos. Das Beobachten und ständige Evaluieren einer Entwicklung, bis es zu einem Zeitpunkt möglich ist, durch analytisches Erkennen die Eigenheiten einer Gemeinschaft zu benennen. Diese besitzen dann höchste Authentizität – sie kommen von selbst, aus sich heraus. Dennoch gilt es, diese gewonnene Erkenntnis zu objektivieren und mit den persönlich gelebten Werten abzugleichen. Erst wenn die in der Gemeinschaft entstandene Identität mit diesen Werten übereinstimmt, finden die Mitglieder in dieser Gemeinschaft jene Erfüllung, die Kräfte zur eigenen persönlichen Entwicklung, zur Arbeit an sich selbst ermöglicht.

Eine authentisch gelebte Identität strahlt nach außen, jeder einzelne kann sie nach außen strahlen. Erkennen wir die Gelegenheit, in der wir uns freimaurerisch verhalten können, suchen wir überhaupt nach Gelegenheiten? Und wie verhalten wir uns dann? Das ist das Betätigungsfeld jedes einzelnen: unser unmittelbarer Wirkungsbereich, dort wo wir Vorbild sein können. 

Die Pluralität als Identität des Großorients von Österreich.

Das pluralistische und liberale Konzept ist die Basis und Identität des Großorients von Österreich. Demzufolge finden unter dem Dach des Großorients von Österreich Männerlogen, Logen für Männer und Frauen sowie Frauenlogen (im Aufbau) ihre Heimat. Wir suchen Menschen, die sich damit identifizieren können – und ihre eigenen subjektiven, ganz persönlichen Wertvorstellungen und Lebenseinstellungen erkennen können. So haben wir uns in der Freimaurerei gefunden. Weil wir hier mit Menschen zusammen sind, verwandt im Geiste und mit gemeinsamen Werten.

Br.·. Bernhard N., AltGM